IMMANUEL ROHRINGER & FRANK MASSHOLDER
Die Frage nach der Kunst darf, muss und soll immer wieder gestellt werden. „Ist das Kunst, oder kann das weg?“ Farbkleckse auf dem Atelierboden, Fußabdrücke, Spuren von Schuhsohlen … hätte man
eigentlich auch sauber machen können. Und doch – jetzt wird das, was so ganz nebenbei bei der hehren Kunstproduktion auch noch entstanden ist, in einer Ausstellung zur Kunst erhoben. Von der
Horizontalen, vom Boden an die Wand gebracht, und in zwei künstlerischen Zugängen gegenübergestellt. Zwei Positionen melden sich zu Wort in einem seit Beginn der Moderne mit verschiedensten
Mitteln geführten Gespräch über Kunst: Ist schon die Auswahl eines vorgefundenen Objekts ein künstlerischer Akt, wie bei Duchamp? Muss Kunst nicht von Können kommen, dem Genie des Künstlers
entspringen, der schwer zu imitierenden Kunstfertigkeit der Hand, des Pinsels, des Blicks? Darf sie von anderen Beteiligten in einem gemeinsamen Prozess mitgestaltet werden? Und wann genau erhält
eine Leinwand voller zufälliger Spuren und Farbspritzer – wie bei Jackson Pollock’s „Drippings“ – die Aura eines Kunstwerks?
Frank Massholder und Immanuel Rohringer widmen sich in ihren Antworten auf solche Fragen der zufälligen Schönheit von Fußböden, in großen, über Jahre laufenden, und bis heute unabgeschlossenen
Serien. Während der Kunstfotograf und Galerist Massholder seine Motive bei den Atelierbesuchen seiner Künstler*innen vorfindet, lässt der bildende Künstler Rohringer sie in experimental und offen
angelegten Prozessen erst entstehen.
Massholder nennt seine Entdeckungen „konkrete Zufälle“, und „sammelt“ seit Jahren konsequent solche „bewusste Aufnahmen von zufällig geschaffenen Objekten“. Die Böden von Künstler*innen-Ateliers
sind, in seinen eigenen Worten „Momentaufnahmen in die innere Landschaft eines Künstlers im Laufe der Zeit […] Sie sind eine Sammlung von Bewegungen, Farben, Spritzern, Inspirationsstücken aus
jedem einzelnen Werk, die ungewollt das Werk des Künstlers als Ganzes dokumentieren“ Für ihn sind solche Atelierfußböden „Leinwände, die uns durch die Zeit führen und uns vielleicht einen
seltenen Blick auf den Künstler in seiner chaotischsten und doch vollständigsten Form gewähren“. Er hat daraus ein umfangreiches Langzeitprojekt geschaffen, in dem es immer wieder auch zu
spannenden Kollaborationen kommt.
Rohringer wiederum begann seine Serie „Artistic Steps“ 2016 (1/20), indem er bei einer Pop-Up-Ausstellung in einem Kreuzberger Projektraum seine unbemalte Leinwand wie einen Tanzboden im
Eingangsbereich auslegte, auf der alle Besucher*innen zunächst ihre Spuren hinterließen. Sie wurde später im Frottage-Verfahren noch „geputzt“, und neue Spuren traten hinzu. Im Laufe der Zeit
experimentierte Rohringer weiter, mit verschiedenen Umgebungen und Zeiträumen, vom Laufsteg bis zum eigenen Atelier, und vom kurzen Event bis zur monatelangen Nutzung. Die Arbeiten, die dabei
entstanden, weisen ganz unterschiedliche Anteile von bewusster Gestaltung und Hingabe ans Zufällige auf. Gemeinsam ist allen diesen verdichteten Zeitdokumenten, dass sie nie von der Hand des
einen Künstlers geschaffen wurden, sondern – nicht ohne einen Blick in Richtung Joseph Beuys zu werfen –, gleichsam alle jene zu Künstler*innen machen, die auf der Fläche ihre Spuren
hinterlassen haben.
Und so scheint es, als erwiesen beide Künstler einem eigenartigen Phänomen Referenz, das sich einstellen kann, wenn man, beispielsweise auf einer Biennale, einen ganzen Tag
mit Kunst zugebracht hat: Man tritt nach draußen, in den Alltag zurück, und alles hat die Aura eines Kunstwerks bekommen. Kunst hat die Eigenschaft, unseren Blick auf die einfachen,
unscheinbarsten Gegenstände unseres Lebens zu verändern – und plötzlich nehmen wir alles, auch Flecken und Kleckse auf Fußböden, wieder mit der Freude unserer frühesten, kindlichen Entdeckungen
wahr.
Dr. Almut Hüfler, 2024